Nicht nur der wunderbare Titel ist ausgesprochen einladend, auch die Auswahl der „Wortschönheiten“ – und sonderlich deren Erläuterungen und Quellen bringen vielerlei Freude.
Ein überaus schönes und wichtiges Buch in dieser Zeit, in der uns Worte und Zeit für Worte verloren gehen. Dieses Buch findet Wörter wieder und schenkt sie uns neu.
„… WORTABBRECHUNG – WÖRTERBUCHARBEIT – WORTUNGETÜM – WORTWUST …“
Als Weihnachtsgeschenk kam dieses Buch zu mir. Als unerwartetes Weihnachtsgeschenk. Unerwartete Geschenke sind oft die schönsten. Denn sie sind Überraschungen.
Sehen wir einmal davon ab, dass Überraschungsgeschenke auf doppelte Weise ebendiese Überraschung bergen – nicht einfach nur überraschend zu Freude werden, sondern ebenfalls dem Risiko des eigentlichen Schenkens beziehungsweise zu schenkender Dinge unterliegen: der möglichen (un)angenehmen Überraschung –, ist zumindest die Überraschung über das Geschenk als Geste zunächst gänzlich ungetrübt. Unabhängig davon, was dessen Inhalt ist. Und (nicht ganz) unabhängig von möglicher Peinlichkeit, selbst kein Geschenk zur Hand zu haben.
Dieses Weihnachten ist eine doppelte Überraschung doppelt gelungen. Mehrfach sogar.
Ein Buch geschenkt zu bekommen ist mir immer und grundsätzlich eine Freude.
Aus dem Papier schälte sich ein wunderschönes Exemplar, dessen Cover bereits Bedeutung und Besonderheit von Buchstaben, Worten, Sprache atmete.
Und wer bitte kann einem solchen Titel widerstehen? Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten … – ich auf gar keinen Fall.
Genau das ist es. Ein Werklein, das Wörter und Sprache in schönster und humorvollster Weise präsentiert, Schätze birgt und „Sprachvitalität“ (ja, genau das) par excellence für den werten Leser bereithält.
Schlägt man dieses Büchlein auf – wobei die Verwendung des Diminutivs nicht auf das Buch selbst bezogen, sondern in Relation zur unvergleichlich umfangreichen Quelle, aus der geschöpft wird, zu verstehen ist –, ist auch darin alles so, wie man es sich für ein solches Bändchen wünscht. Zweifarbig angelegt, sind die „Wortschönheiten“, in Kapitälchen gesetzt, wunderbar lesbar. Grafisch ist es an das Original angelehnt, wobei ebenfalls die konsequente und auch für damalige Zeiten eher unübliche, direkt auf Jacob Grimm zurückgehende Kleinschreibung übernommen wurde.
Besagte Quelle, aus welcher diese Worte von Peter Graf, dem Herausgeber, (aus)gesucht und gefunden wurden, ist, wie der Titel verrät, Grimms Wörterbuch – „das größte und umfassendste Wörterbuch zur deutschen Sprache seit dem 16. Jahrhundert“.
Doch das hübsche Büchlein ist mehr als eine Sammlung besonderer Worte. Es birgt eine Geschichte, eine ausgesprochen erzählenswerte. Denn die so wundervollen „Wortschönheiten“ wurden … aus dem Grimmschen Wörterbuch ‚befreit‛ – dem Deutschen Wörterbuch, an dem Jacob und Wilhelm Grimm im Jahre 1838 zu arbeiten begannen und das sich, so die verständnisvolle Anmerkung des Herausgebers (oder waren es die Autoren selbst, welche es bereits so empfanden?), zum „lexikografischen Martyrium“ entwickelte und erst 123 Jahre später, 1961 mit Band 33 (einem Quellenband), abgeschlossen wurde, mit wohlgemerkt 320.000 Stichworten „unfassbaren Sprachreichtums“.
Eine „Wunderkammer der deutschen Sprache“ verspricht der Klappentext zur Auswahl – und hat damit schlicht recht. Eine Wunderkammer, die man von je her zu schätzen weiß. Das Konterfei dieses Großwerkes zierte einst den 1000-DM-Geldschein und auch die moderne Technologie setzt es gekonnt um: Die Universität Trier digitalisierte das Opus und stellt es als Online-Ausgabe zur Verfügung.
Wer das Gefühl hat, sich in den knapp 35.000 Seiten Gesamtausgabe zu verlieren, sich einen wunderbaren ersten Eindruck dessen verschaffen oder einfach nur Sprache in ihrer schönsten und erfreulichsten Weise erleben will, ist mit dieser besonderen Auswahl von Peter Graf gut aufgehoben.
Aber auch, wer sich Sprache (wieder) vermehrt zuwenden möchte, auf spielerische, unterhaltende Weise, kann zu diesem Buch greifen. Es birgt – auch ohne Weihnachten – eine Fülle von Überraschungen.
Jedes Kapitel dieser Auswahlsammlung ist sprachlich und grafisch opulent eingeleitet. Von „A“, dem „edelste(n), ursprünglichste(n) aller laute aus brust und kehle voll erschallend“, bis „Z“, dem „als einheitlich empfundene(n) laut innerhalb des germanischen“, wählte der Herausgeber Wörter von ABMURZELN bis ZWISCHENLICHTENSTUNDE aus dem Deutschen Wörterbuch. Hier atmet man grafisch ein wenig die Aura früher Handschriften und der Kunst der Buchmalerei. Vignetten verweisender und hervorhebender Hände lockern das Textbild auf und imitieren ebenfalls Handschriften aus Vor- und Frühdruckzeiten.
Ergänzt werden erfreulicherweise auch durchaus witzige Grafiken.
Fotos: Manuela Kahle
Die Einleitung des Herausgebers lässt das Herz eines Bücher und besonders Klassiker liebenden Lesers springen.
Wenn Peter Graf schreibt: „der Band macht nichts anderes als, schön gestaltet, ein ursprünglich über 34.800 Seiten umfassendes Werk auf etwa ein Prozent seines Umfangs zu reduzieren. Und dies nach Lust und Laune des Herausgebers, ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch und nur der Idee der Blütenlese folgend, um die seltsamsten, wunderbarsten und unbekanntesten Wortschönheiten aus dem Wortmuseum des Bedeutungswörterbuchs zu befreien und in einer überschaubaren Dosis dem heutigen Lesen ans Herz zu legen.“ – handelt es sich durchaus um eine Untertreibung, erinnert ein wenig an die Bescheidenheitstopoi voriger Zeiten und schafft damit genau die richtige Stimmung, in dieses schöne Werklein eintauchen zu wollen.
Allein die Quellenbelege der „Wortschönheiten“ zeigen Überraschendes, Ungekanntes und somit höchst Erfreuliches.
Es soll Erkenntnisgewinn mit hohem Unterhaltungswert verbinden, so der Herausgeber, was es in der Tat tut. Und den Spieltrieb anregen. Hier denkt er an Familien- und Gesellschaftsspiele, an Rätselraten und Wortgeschichten kreieren et cetera. Ich bin kein Spiele-Typ, ganz und gar nicht, doch die „Wortschönheiten“ laden geradezu ein zu spielen, und damit vor allem, sich mit Worten und Sprache auseinanderzusetzen. Etwas, das in unserer schnelllebigen und auf digitale Kommunikation fokussierten Zeit immer wichtiger wird. Wir verlieren zunehmend unsere Sprache. Und dieses Werklein hilft, mit Freude zu ihr zurückzufinden
Foto: Manuela Kahle
Erfreulich ist, dass Peter Graf sich zwar im Buch, nicht aber thematisch den Schwierigkeiten der Ergänzungen der Jahre 1933 bis 1945 verschließt, und explizit darauf verweist: „Gesinnung manifestiert sich eben auch in der Sprache“. Jacob und Wilhelm Grimm, das hebt der Herausgeber hervor, waren nationalistische Gedanken fremd.
Für mich, die sich alltäglich mit Worten, Sprache, Texten, ihrer Entstehung, ihren Eigenheiten und Veränderungen beschäftigt, ist es ein wunderbarer Ausblick, eine große Freude und ausgesprochen humorvolle Unterhaltung.
Ein überaus schönes und wichtiges Buch also, in dieser Zeit, in der uns Worte und Zeit für Worte verloren gehen. Dieses Buch findet Wörter wieder und schenkt sie uns neu.
Mein Geschenk des Jahres ist es allemal.
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Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch. Ausgewählt und herausgegeben von Peter Graf. dtv, München, 20192. (Die Hardcover-Ausgabe erschien bei Walde+Graf.)
Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch. Ausgewählt und herausgegeben von Peter Graf. dtv, München, 2019(2).
Walter Graf leitet die Verlagsagentur Walde+Graf und ist Mitgründer des Verlags Das kulturelle Gedächtnis.
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